Wie mag man sich wohl fühlen, wenn einem alles genommen wird? Wenn Krieg ist, wenn Plünderungen und Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind. Wenn Haus und Hof zerstört sind. Wenn man keine Rechte mehr hat, wenn man seine Kultur und Religion nicht mehr leben darf. Wenn das Leben nicht mehr lebenswert ist. Der Prophet Jeremia kann ein Lied davon singen. Er singt gleich eine ganze Reihe davon
in seinen Klageliedern, dem gleichnamigen Buch im Alten Testament.
Historisch befinden wir uns im ausgehenden 6. Jahrhundert v.Chr. Nebukadnezar und die Babylonier haben Jerusalem erobert und zerstört und weite Teile der jüdischen Eliten nach Babylon deportiert. Es herrscht Traurigkeit im Heiligen Land, welcher Jeremia in den Klageliedern Ausdruck verleiht, vor allem im Kapitel, dem Klagelied eines einzelnen exemplarisch Leidenden.
Vielleicht kommt auch nicht ohne Grund der Name des Propheten im Namen unserer Gemeinde vor. Der Prophet Jeremia, der sein Joch auf sichnimmt. Den wir täglich in unserem Innenhof als Bronzestatue sehen können. Der Prophet Jeremia, der mehr ertragen muss, als er meint zu können. Der Prophet Jeremia, der klagt über sein Leid und das Leid der Welt. Nicht, dass unsere Situation ansatzweise mit dem Leid des Babylonischen Exils verglichen werden kann. – Doch unsere Gemeinde hat viel durchgemacht in der Vergangenheit. Und nach der Fusion von Zuflucht und Jeremia, nach fast 3 Jahren Corona, nach dem Dachbrand in Jere-
mia, nach zwei endlos dauernden Mega-Bau- und Immobilienprojekten und den sich daraus ergebenden Herausforderungen und Exilen in den Gemeinderäumen der Zufluchtskirche, im Klubhaus Spandau, in der Ev. Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde und in der Kita Samariter war auch in unserer Gemeinde das Gefühl des zu schweren Jochs, der Lust zur Klage groß bei uns allen. Und der Prophet Jeremia bleibt eben nicht stehen beim Zuviel, beim Es-geht-nicht-mehr. Er zerbricht nicht an seinem Joch. Aber er bleibt nicht stehen bei der Klage.
Denn er glaubt an Gott. Allem Leid zum Trotz. Er bringt seine Klage vor Gott, weil er glaubt, dass dieser ihn erhört. Weil er glaubt, dass Gewalt und Unterdrückung nicht ewig herrschen werden. Weil er glaubt, dass nach großer Entbehrung die Belohnung kommt. Jeremia glaubt es nicht nur. Er weiß es. Denn erfüllt von tiefem Gottvertrauen und in tiefer Dankbarkeit bekennt Jeremia in seiner Klage schließlich: „Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mirs. Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch: Die Güte des Herrn ists, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und Deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. (Klagelieder Jeremias 3, 10-24).
Der letzte Satz war übrigens auch nicht ohne Grund der Aufdruck auf dem Glockenturmbanner an unserer Jeremiakirche nach dem Dachbrand.
Gott ist mit uns. In guten wie in schwierigen Zeiten.
Das haben wir gehofft all die Jahre. Das haben wir geglaubt. Und das hoffen und glauben wir heute. Zusammen mit Jeremia.
Ihre Pfarrerin Axinia Schönfeld